Das Vorgängerkapitel zu diesem findest du hier.
Neb kennt die sogenannte “Prophezeihung” mittlerweile auswendig. Fiona hat sie ihm so oft ausgeführt, dass er sie fast mitsingen kann.
Sie weiß, dass ihm pseudowissenschaftliche Ammenmärchen und Gewäsch von minderinformierten Leuten nerven, ihn gar zur Weißglut treiben können.
Doch die Überschneidungen lassen sich nicht von der Hand weisen. Wenn man denn an erster Stelle an solchen Quatsch glaubt.
Wie heißt es dort bezeichnenderweise:
“Der Apuraqjah ist das in Menschenform manifestierte letzte Zahnrad der kosmischen Maschine. Nach ihm kommt das Nichts. Auf ihn folgt das Unvorhersehbare. Er bringt das Ende.”
Da er seit ungefähr seinem elften Lebensjahr daran arbeitet, eine oder mehrere technologische Singularitäten Realität werden zu lassen, ist diese Ähnlichkeit tatsächlich nicht von der Hand zu weisen.
Doch ist er weder der Einzige, noch der einflussreichste in diesem Gebiet. Zumindest bis jetzt. Aber die Arbeitsergebnisse seiner letzten Wochen werden wohl kaum in eine exakt nicht zurückdatierbare Vorhersehung aufgenommen worden sein.
All diese Gedanken gingen ihm in den letzten Wochen und Monaten, in kognitiven Monologen wie in Gesprächen mit Fiona und ein paar anderen, meistens Kollegen, immer wieder durch den Kopf. Und all diese und noch viele weitere rasen durch sein Cranium im endlosen Moment, da sich seine Hand dem Flammenkarneol nähert.
Laut der “Prophezeihung” “funktioniert” der mystische Flammenkarneol nur dann, wenn der “Auserwählte” zur exakt “richtigen Zeit” am “richtigen Ort” ist und diesen so fest ergreift, wie er seinen größten Wunsch erfüllen möchte.
Das Ende der “alten” und der Beginn einer neuen Zeit ist sein innigster Wunsch seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten. Vorausgesetzt alle Teile des Vorstadt-Hokuspokus-Rezeptes stimmen, sollte dann jetzt ja wohl irgendetwas Großes passieren.
Dies ist Nebs letzter Gedanke, bevor seine Fingerspitzen den gleißenden Stein berühren und seine Hand ihn zu umfassen beginnt.
Im Hintergrund rufen seine Eltern dumpf etwas für ihn nicht verständliches. Der Wind ist noch immer eiskalt. Die Sonne legt sich um ihn wie ein goldstrahlender Mantel.
Er umfasst ihn und legt seine Herzenswünsche in diesen Griff. Wenn er diese Dorfmarkt-Prophezeiung schon auseinandernimmt, dann aber auch richtig.
Den Flammenkarneol fest in seiner Faust gefangen kommt Neb am Ende der steilen Bergspitze zum Stehen. Njörðs und Eliyha sind wenige Sekunden später hinter ihm und kommen ebenfalls zum Stehen.
“Was hast du dir dabei gedacht so loszustürmen Neb?” fragt sein Vater ihn vorwurfsvoll.
“Du weißt doch welcher Tag und welche Zeit jetzt gerade ist!” Ergänzt er.
Eliyha setzt ebenfalls zu einem strafenden Satz an, schließt ihren Mund aber direkt wieder und lächelt.
“Es ist ja glücklicherweise nichts passiert” sagt sie. “Wir sind zwar etwas angespannt, aber es gibt keinen Grund deshalb alles auf die Goldwaage zu legen”.
Neb grinst die beiden an. “Das könnt ihr laut sagen!” Und lässt eine demonstrative Pause.
Njörðs und Eliyha schauen ihn verwirrt an als er ihnen seine durch die feste Umklammerung weiß gewordene Faust entgegenstreckt.
“Ich hab ihn.” sagt er mit einem sachten Klang gewinnsicherer Vorfreude in der Stimme.
Er hält seine geballte Faust auf Höhe ihrer Gesichter und sagt mit einer Spur Wut in seiner sonst triumphalen Stimme “So viele Monde haben Fiona, meine Kollegen und ihr wegen dieser absurden “Prophezeiung” auf mich eingeredet!”
“So oft habe ich mir Sorgen, Ängste, Vorschläge und Bitten von euch angehört. Und alles nur wegen vollkommen aus der Luft gegriffenen Schauergeschichten, die irgendjemand aus Langeweile mal irgendwohin geschrieben hat und die zufällig mehr oder minder gut auf mich passen”
“Doch all das ist jetzt vorbei!” sagt Neb laut und vor Vorfreude lachend.
“Wir sind in diesen gesperrten Sektor zu allen von diesem absurden Astral-Horoskop verkündeten Daten und Koordinaten gereist, um ein für alle Mal einen Schlussstrich unter diesen Bullshit zu setzen.”
“Und genau das tun wir jetzt!”
Njörðs Miene hatte sich während der feierlichen Ansprache von Neb in den gewohnt gelangweilt / genervten Ausdruck seines weitestgehenden Desinteresses an den unrealistischen Ideen seines Sohnes verwandelt. So wie immer, wenn Neb irgendetwas Abenteuerliches verkündet, was für ihn einfach nur nach absurden Utopiephantasien klingt.
Eliyha hingegen hatte sich beruhigt und ein Lächeln auf den Lippen. “Es ist doch immer dasselbe mit den beiden.” dachte sie sich.
“Ok ok, verstanden” sagt Eliyha, die Hände zur symbolischen Kapitulation erhoben.
Du hast recht. Wir sind exakt wie vorhergesagt hier. Der Ort stimmt auf den Dezimeter genau. Die Zeit passt auf die Sekunde. Selbst die Sonne scheint so intensiv wie im Text beschrieben wurde.
“Exakt!” Ergänzt Neb. “Und absolut NICHTS ist passiert!”
“Schön, dass wir das geklärt haben, dann können wir ja weiter die Wanderung genießen.” wirft Njörðs spöttisch ein.
“Und was hältst du uns hier die ganze Zeit so verheißungsvoll ins Gesicht Neb?” fragt er abschließend und zeigt auf Nebs noch immer ausgestreckten Arm.
“Den abschließenden Beweis für die Falsifizierung und Grund dafür, dass wir solche irrationalen Dauergesprächsthemen von jetzt an vermeiden.” sagt Neb als würde er ein königliches Zepter schwingen.
“Was… Was genau hast du da?” fragt Eliyha besorgt.
“Euren allseits beliebten Flammenkarneol. Oder sollte ich besser sagen den vollkommen gewöhnlichen Stein, der an seiner “vorhergesagten” Stelle lag?”
“So verzaubert und mächtig wie das nächstbeste Grasbüschel hier” lacht er bitter.
Aber seht selbst.
Neb öffnet seine Faust und das gleißende Sonnenlicht trifft auf die wabernden Hitzewellen im Stein in seiner Handfläche.
Für einen Sekundenbruchteil werden alle drei von einem grellen, leuchtend weißen Schein geblendet.
Doch bereits einen Wimpernschlag später sind die bedrohlichen Lavawellen im Geoid in Nebs Hand zu einem kaum wahrnehmbaren Glimmen verstummt.
So schnell ging das alles, dass alle drei durch mehrfaches Blinzeln wieder ihre visuelle Wahrnehmung adjustieren und sich direkt darauf kurz verwirrt anschauen.
“Was genau ist gerade geschehen?” fragt Eliyha überrascht und unsicher in die Runde.
“Die viel wichtigere Frage ist doch: Ist überhaupt etwas geschehen?” fragt Neb daraufhin herausfordernd zurück.
Er schaut den Stein an, zuckt mit den Schultern und steckt ihn in eine seiner Taschen.
“So wie ihr mich anschaut, wurden wir alle gerade kurz geblendet. Das kann einen schonmal kurz aus der Fassung bringen, ist aber nichts universenbewegendes. Soweit ich weiß wurden vor uns schon andere Lebewesen durch reflektiertes Sonnenlicht geblendet und in den seltensten Fällen sind daraufhin Apokalypsen ausgebrochen. Ich würde sogar sagen…”
“Genug! Wir haben es ja verstanden!” fällt Njörðs Neb schroff ins Wort.
“Wir haben uns Sorgen um dich gemacht und du bist wie immer der große Gewinner mit deinen Theorien, Zahlen und Erfindungen. Verstanden. Kannst du uns deine Nobelpreisrede ersparen und wir einfach gemeinsam den ohnehin viel zu seltenen Moment genießen, in dem wir drei einfach mal nur zusammen sind?”
In die frustrierte Übersättigung derartiger Gespräche mit Neb gesellt sich mehr und mehr Erleichterung darüber, dass Neb kein schlimmes weiteres Schicksal bevorsteht.
Und das an Wut angrenzende Unverständnis darüber, dass er sich nicht einfach nur darüber freuen kann, dass jetzt keine Kometen einschlagen oder Feuerwalzen sie alle begraben. Oder was zum Gestirn sonst alles auf diese vermaledeite Prophezeiung folgen sollte.
“Warum muss er nur immer alles so distanziert und abstrakt sehen? Kann er sich nicht einfach nur freuen, wie es in so einer Situation mehr als angemessen wäre? Wen habe ich da nur erzogen?” fragt sich Njörðs innerlich zusammengekniffen.
“Ok ok, genug ihr beiden Kämpfernaturen!” unterbricht Eliyha den nächsten sich anbahnenden Streit zwischen den beiden.
“Du hast recht, wir haben Unrecht, uns allen geht es gut und niemand kommt zu Schaden. Ich finde, das ist ein Grund zur Freude! Und ich stimme meinem schnell entflammbaren Mann zu, lasst uns einfach gemeinsam diese schöne Wanderung und den Rest dieses tollen Tages genießen.” führt sie aus und umarmt beide sanft an den Schultern.
“Klingt gut!” schließt Neb dieses Gesprächskapitel des familiären Triviums.
“Danke für eure Fürsorge, ich bin nur a) keine fünf Jahre mehr alt und b) kann ich sehr gut auf mich und meine Lieben aufpassen. Ich verstehe eure Gedanken und liebe euch für euren Fokus auf mein Wohlbefinden. Doch bitte lasst das die letzte Hexenjagd gewesen sein, die ihr mir deshalb kollektiv auf den Rücken schnallt, ja? Ich danke euch und hab euch lieb!”
Die drei umarmen sich und lächeln einander an.
“Lieber so, als wenn keiner miteinander sprechen würde und alle nur neben sich her leben.” sagt Njörðs und boxt Neb spielerisch gegen die Schulter.
“Wollt ihr noch die letzten Meter zum Gipfel oder den Rückweg antreten?” fragt er in die befriedete und erleichterte Mannschaft.
“Ich bin glücklich, genau so wie es ist. Von mir aus können wir den entspannten Rückweg antreten.” antwortet Eliyha mit Freude über die wiederhergestellte Familienharmonie.
“Ich bin direkt hinter euch” sagt Neb während er von ihnen weg- und die wenigen letzten Meter auf den Gipfel sprintet.
“Manche Dinge ändern sich niemals” sagt Njörðs mit einem lachenden Seuftzen und blickt ihm hinterher.
Neb steigt in ein paar gut platzierten großen Schritten zur Spitze des Berges empor.
Freude über die gewonnene Freiheit von der sorgenbeschwerten Aufsicht seines halben Umfelds steigen in ihm auf wie fluoreszierende Seifenblasen.
Doch er spürt noch etwas anderes in seinem Körper. Etwas, dass er nicht genau benennen kann.
Er fühlt in sich hinein und stellt fest, dass er nicht in, sondern an seinem Körper ist.
Ein leichtes Gefühl des Zuges. Kaum wahrnehmbar und auch direkt wieder übersehen.
Er erreicht die letzte Steinstufe und ist damit auf der Spitze des Berges angekommen. Eliyha und Njörðs haben bereits den Abstieg angetreten, doch schauen immer mal wieder in seine Richtung.
Neb winkt den beiden, schließt die Augen und atmet die kristallklare, eisige Luft ein.
“Hah!” atmet er zufrieden aus.
“Von jetzt an wird alles nur noch besser!” spricht er freudegeladen und breit grinsend aus.
Er nimmt die Aussicht über die wie ein Donut die Bergspitze umkreisende Wolkenebene in sich auf, atmet in einem Stoß aus und beginnt quietschvergnügt den Abhang herunter, zum Rest der Gruppe herunterzurennen.
Als dieses Gefühl, wie ein Schlag ins Gesicht, aus dem Nichts wiederkommt.
Je schneller er rennt, desto stärker wird die Kraft, die an ihm hängt wie ein Sack Kartoffeln.
Er wird langsamer, bleibt stehen. Er ist jetzt etwa zwanzig Meter von der Bergkrone heruntergestiegen und spürt das Zuggefühl jetzt auch in Ruhe.
Es kommt… aus seiner Tasche! Da wo… er den Stein hin eingesteckt hat.
Schlagartig fällt ihm eine weitere Passage der ihm so oft von Fiona vorgelesenen Prophezeiung wieder ein:
… Der Mann, der das Ende bringt, zieht die Pforte zum Anfang mit seinen eigenen Händen auf wie die Stoffbahnen eines Zelteingangs. Und so beginnt der Schluss. …
Eine explosive Mischung aus Unverständnis und Wut brandet in Neb auf.
Scheiß auf diesen Wahrsagerbullshit! Er nimmt den noch immer kaltgrauen Flammenkarneol aus seiner Tasche, atmet schlachtbereit auf, umschließt ihn erneut fest in seiner Faust und rennt auf seine Eltern zu.
Der Karneol erweckt in seiner Hand wieder zu glühendem Leben. Zeitgleich steigt die Zugkraft, die Neb überwinden muss, mit jedem Schritt an.
Mit jedem Meter und jedem Prozent mehr an investierter Kraftanstrengung kann er das Gefühl besser beschreiben.
Es ist wie ein Stofftrichter, der an dir hängt. So als würdest du ein Netz mit einem Magneten bewegen. Als würdest du die Spitze eines tonnenschweren Zelts an einem Ring befestigen und diesen mit einer Hand in die Luft ziehen.
Je klarer die Kraft und je glutaktiver der Karneol in seiner Hand wird, desto mehr beschleunigt Neb seinen Sprint.
Njörðs und Eliyha schauen zunächst verwirrt auf ihren auf sie zurennenden Sohn.
Bis sich ihr Gesichtsausdruck wie synchronisiert in aus vollkommener Unverständnis erwachsender Neugier verwandelt.
Und dann in nackte Panik.
Das postulierte Netz, das Neb festgeknüpft am Flammenkarneol spürt und er immer weiter und stärker aufzieht, ist nicht nur so eingebildet wie es sich rational begründbar anfühlt.
Tatsächlich zieht Neb mit immer schneller werdenderer Geschwindigkeit hinter sich die Realitätsperspektive dieses schönen Berges im Sonnenlicht herunter.
Wie ein Poster was man in der Mitte anpackt und von der Wand reißt.
Doch Neb hat keine Zeit sich mit derartigen Nebensächlichkeiten zu beschäftigen.
Der Widerstand wird immer größer und er spürt, dass rennen allein ihm nicht mehr lang die nötige Kraft geben wird, um ihn zu überwinden.
Gibt nur eine Möglichkeit seine endgültige Freiheit von dieser hanebüchenen Prophezeiung und endlosen weiteren Diskussionen, die seit seiner Kindheit sein Fluchtreflex-induzierender Alltag sind ein für alle Mal zu entkommen.
Er rennt mit allem, was er hat auf einen kleinen ebenen Felsvorsprung zu.
Njörðs und Eliyha schreien ihm irgendetwas im Geschwindigkeitsrausch unverständliches entgegen.
Er erwischt den kleinen grauen Schieferteller und springt von diesem mit aller Kraft ab. Er umgreift sein linkes Handgelenk mit seiner rechten Hand und zieht im Sprung mit einem lauten Kampfschrei den Flammenkarneol so weit vom Gipfel weg wie er nur kann.
Kurz fühlt es sich so an, als würde er den Kampf verlieren, der Widerstand zu groß sein.
Doch in der Luft legt er sein ganzes Körpergewicht in den Zug und gibt ein letztes Mal vor seiner Landung alles.
Dann auf einmal fühlt es sich so an, als sei ein Strick gerissen.
Die Kraft lässt nach und er rollt sich gekonnt mit einer Judorolle über das Geröll ab.
Er kommt etwa hundert Meter von seinen Eltern entfernt auf dem Boden auf.
Dann schaut auch er nach oben.
Njörðs und Eliyha rennen zu Neb während dieser sich geistesabwesend den Staub aus den Kleidern klopft und noch immer nicht fassen kann, was er dort sieht.
Da wo noch vor wenigen Momenten der Flammenkarneol lag, er ihn aufgehoben hat und dann den Hochgeschwindigkeitsabstieg angetreten ist, genau dort beginnt ein türförmiges… Ja was genau?
Ein… Portal? Eine hochkant rechteckige Tür aus waberndem Licht? Ein Tor zu einer anderen Dimension?
Was auch immer es ist, in dieser Form hat Neb es noch nie zuvor gesehen. Interdimensionsportale sind natürlich nichts Ungewöhnliches und ohne diese würde ein Großteil der Kosmoswirtschaft sofort in sich zusammenbrechen. Doch das hier … Das hier scheint anders.
Es sieht nicht aus wie die klassische Wurmloch- oder Warptechnologie die man an jeder Ecke der Galaxie findet.
Während Neb vollständig auf Forscher umgeschalten hat und wortlos, mit offenem Mund und vollkommen im Nachdenken versunken auf den gleißenden Wunder-Hochkant-Bildschirm zuläuft, erreichen ihn seine Eltern.
Gleichsam atemlos und aufgebracht schüttelt Njörðs Neb durch und möchte reflexartig mit einer seiner Standard-Standpauken beginnen.
Doch bevor Njörðs oder Eliyha auch nur ein Wort sagen können, hebt Neb den Zeigefinger und bestimmt beiden still zu sein.
Den Blick noch immer starr auf die feurige Riesenbriefmarke an der Spitze des Berges gerichtet, nimmt seine Aura der vollkommen fokussierten Neugier die beiden gefangen.
Njörðs schaut kurz besorgt zu Eliyha und diese greift seine Hand.
Sie atmen kurz durch und folgen Neb, der wie von einem Traktostrahl magisch zur Dimensionstür hingezogen ist.
Die drei laufen gebannt den letzten Gipfelabschnitt entlang nach oben. Keiner sagt ein Wort und auch der eisige Wind scheint verstummt zu sein. Selbst die vormals strahlende Sonne ist zu einem Hintergrundglimmen geworden.
Je näher sie dem Wundertor kommen, desto klarer können sie durch seine goldfarbene, lavazäh wabernde Firnis blicken.
Neb öffnet seine Hand und sieht den Flammenkarneol erneut erkaltet.
Dafür erblickt er hinter dem Fenster zum Unbekannten eine infernale Hölle.
Njörðs, Eliyha und Neb erklimmen die letzten Schritte vor das Portal und stehen leicht abschüssig, doch sonst direkt vor ihm.
Ihnen entgegen blickt eine manifeste Apokalypse.
Endlose Feuerozeane. Ascheschwarzverbrannte, wie Fangzähne geformte Felsenklingen. Magmaflüsse die sich wie alles verzehrende Wasserfälle dampfend in opalisierenden, flüssigen Stahl ergießen.
Das Bild, was sich ihnen zeigt, verspricht nichts als Qualen, Atemnot, schreiende Schmerzen und ein langsames, schmerzdurchdrungenes Verenden.
Njörðs und Eliyha schlucken im Einklang.
Was haben sie nur getan?
Sie schauen fragend zu Neb.
Dieser schaut unbeeindruckt in den gähnenden Kataklysmus.
“Na dann. Weiter geht’s!” sagt Neb energiegeladen und beginnt den rechten Fuß nach vorn in die Tür zum sicheren Verderben zu setzen.
“Bist du wahnsinnig!” Schreit Njörðs Neb ins Gesicht und packt ihn am Arm.
“Bist du blind oder einfach nur dumm?” wirft er hinterher.
“Siehst du nicht, was dort auf uns wartet?!” Schließt er seinen Satz. Fassungslos, dass er diese Worte überhaupt aussprechen muss.
Neb lächelt und öffnet den Griff um seinen Oberarm mit der Routine eines erfahrenen Kampfsportlers mühelos. Er hält die Hand von Njörðs zwischen seinen Handflächen.
Und lächelt beide an.
“Vertraut mir.” sagt er ruhig.
Dann löst er sich und springt mit einem Satz in den pyromanischen Albtraum durch das unheilvolle Portal.
Njörðs und Eliyha schauen sich an, wie sich das letzte Mal zu Ihrer Trauung angesehen haben. Dass eine derart intensive Mischung aus Ungewissheit, Abenteuerlust und purer, physischer Neugier nochmal durch Ihre Adern peitschen würde, hätten sie nicht für möglich gehalten.
Er drückt ihre Hand und küsst sie.
Dann springen sie gemeinsam Neb durch das Flammenportal hinterher.
Ein Wimpernschlag.
Es hat sich angefühlt wie ein Wimpernschlag währenddessen mag einen Boxsack schlägt.
Der kurze Moment der geschlossenen Augen währenddessen die eigene Faust auf das Ziel trifft.
Und sobald sich die Augen nach einer Mikrosekunde wieder öffnen, spürt man die Wucht des eigenen Aufpralls und den Widerstand der getroffenen Masse.
Wie ein rückstoßspürbarer Wimpernschlag.
So hat sich der Zeit- und Raumbruchteil Ihrer kurzen Reise angefühlt.
Njörðs erwischt sich dabei, wie er in einem Stoß ausatmet. Das hatte er seit dem Sprung vergessen.
Nachdem er sich wieder seines Körpers und seiner Unversehrtheit gewahr ist, schaut er zur Seite und sieht Eliyha, der es ebenfalls gut geht und der - genau wie ihm - vor seinen Augen buchstäblich ein mittelgroßer Asteroid vom Herzen fällt.
Das der Ausflug abenteuerlich würde, war ja geplant. Aber das…
“Danke!…” Schreit Neb ihnen quer durch das endlose Steingewöble entgegen.
“…Und schön, dass ihr da seid!” fügt er lachend hinzu.
“Wie es aussieht…” beginnt Neb mit weit geöffneten Armen zur Begrüßung der beiden in diesem neuen Biotop den nächsten Satz.
“Kannst du nicht einfach mal normale Dinge machen!” bricht es zu gleichen Teilen wütend und erschöpft aus Njörðs heraus.
“Wir hätten sterben oder schlimmeres können! Und alles, was du tust, ist halsbrecherisch deine Kamikazemission weiterzugehen…” blafft er Neb immer geladener an.
“… Wie es aussieht, geht der Humbug mit der Kaffeesatzlese-Prophezeiung wohl doch etwas weiter, als ich annahm.” führt Neb den Satz unbeeindruckt aus.
Ihr habt die Prophezeiung mindestens so oft wie ich gelesen. Und ihr sogar freiwillig.
Ihr solltet wissen, warum wir hier sind und warum das Flammenszenario nur eine logische, visuelle und rein der Abschreckung dienende Finte war.
Deshalb spare ich mir die Erklärung, danke euch nochmal für euer Vertrauen und schlage vor, dass wir tun, wofür wir den Aufstieg zum Berg begonnen haben.
“Das kann doch wohl nicht dein Ernst…” beginnt Njörðs immer empörter seine emotionale Erwiderung, als Eliyha ihren Zeigefinger auf seine Lippen legt, seinen Kopf zu ihr dreht und ihm direkt in die Augen schaut.
Dann zeigt sie, ohne ein Wort zu sagen, mit der anderen Hand auf die Umgebung.
“Schau dir das hier an!” sagt sie ihm ohne Worte.
Njörðs versteht blind was sie ihm mitteilen möchte und erhebt den Blick in Ihre neu gewonnene Umgebung.
“Das könnte die größte Kathedrale sein, die je errichtet wurde. Wenn heute noch jemand Kathedralen errichten würde.” ist der erste, zusammenfassende Gedanke in Njörðs Kopf.
Während Neb quietschvergnügt den endlosen, grauen Steinabhang hinab in Richtung der Reste einer gigantischen uralten, längst erloschenen Stadt entgegenläuft, verarbeitet er all die surrealen, neuen Eindrücke zu einem kohärenten Gesamtkonzept.
Unter Ihnen die verlassenen, tiefschwarzen und aus einer Art mattem Kristall gefertigten Grundmauern einer alten Zivilisation (oder etwas anderem?).
Vor Ihnen eine endlose, dunkle und dumpfe Weite in einer unermesslich groß zu scheinenden Höhle.
Über Ihnen ein eigener Mikrokosmos mit kleinen Wolken und getrockneten Stalagmiten, die aus der Kavitätsdecke sprießen.
Njörðs schaut Eliyha an und erblickt ein ebenso ratloses wie von einer Spur Vorfreude umspieltes Gesicht wie das seine.
“Darüber reden wir noch, wenn wir wieder daheim sind!” bricht Eliyha das partielle Schweigen und bringt Njörðs Gedanken wieder in die Gegenwart.
“Nichts lieber als das!” erwidert Neb ohne hinaufzusehen und mit größer werdender Geschwindigkeit den Abhang hinablaufend.
“Na dann, schauen wir mal womit wir es zu tun haben. Was meinst du?” fragt Eliyha Njörðs.
“Klingt… klingt gut!” antwortet er mit dem Gefühl irgendetwas außerordentlich Wichtiges zu übersehen oder vergessen zu haben.
Wie ein Splitter klebt die Information in seinem Inneren. Er kann sie spüren, doch er kann sich nicht formulieren.
Wie ein Zitronenkern im Wasser gleitet ihm der Schlüsselgedanke ständig zwischen den Fingern hindurch.
“Hm.” grunzt er mehr an sich selbst gerichtet in leichter Frustration.
“Lass uns gehen!” küsst er sie erneut und sie beginnen Hand in Hand den gemeinsamen Abstieg.
Sie erreichen kurz nach Neb das Plateau am Fuße des Steinabhangs und wenige Meter später die Außenmauern der verlassenen und verfallenen Stadt mit Neb bereits in einem der ehemaligen Gebäude.
Aschefahler, dunkler, blass smaragdfarbener Schimmer überzieht die stummen Formen.
Neb inspiziert die Fundamente und einige Säulenstümpfe und nickt sich dabei kontinuierlich selbst zu.
“Was glaubst du, was das hier ist, oder vielmehr war?” fragt Eliyha Neb.
Neb blickt zu den beiden. “Ihr habt die Propezeiung gelesen, richtig?”
“Sollte ich wirklich der “Apuraqjah” sein und diese absurde Weissagung stimmen…”
Wie ein Blitz trifft Njörðs die Erkenntnis.
Leichenblass weichen alle Kräfte aus ihm und er blickt Eliyha und Neb tiefengeschockt an.
“Das darf nicht sein. Das kann nicht sein.” spricht er auf den Boden blickend und energieberaubt wie mit letzter Kraft aus.
“… sollte all das wirklich der Realität entsprechen, dann ist das hier eine alte Feste, eine uralte Ladestadt der Viridis.” beendet Neb seinen Satz trocken.
“Du hast gesagt, dass all das absurder Hokuspokus ist! Das nichts von alledem auch nur im entferntesten Sinn ergibt und dies in keinem Multiversum stimmen kann! Das waren deine Worte Neb! Verdammt nochmal!” regt sich Eliyha verzweifelt und mit den Tränen kämpfend auf.
Sie nimmt Njörðs in den Arm, der noch immer apathisch und regungslos wie ausgeknipst dasteht und auf den von stumpfem, silbergrau glitzernden Staub bedeckten Boden starrt.
“Ja das habe ich und ich glaube auch noch immer nicht, dass das war und wir hier sehen zwangsläufig das heißt, was “geschrieben steht”. Das wissen wir erst, wenn wir die Energiekapsel gefunden und deren Ladungsfähigkeiten geprüft haben.”
“Aber viel Spaß hier einen bärengroßen, leeren Glaszylinder zu finden, in die richtige Einpassung zu bewegen und die passenden Paraenergie-Pulse exakt stimmig dort hindurch zu jagen…” führt Neb das Rezept aus der Prophezeiung aus.
“Ruhe jetzt!” Schreit Eliyha mit brechender Stimme und klammert sich immer noch schützend um Njörðs.
“Nichts von alledem sollte so ablaufen, wie es jetzt passiert ist! Wir sollten gar nicht hier sein! Das alles hier sollte es gar nicht geben! Und selbst wenn, solltest du nicht hier hinstürmen! Warum kann nicht einmal etwas normal laufen!” verwandelt sich Eliyhas Stimme mehr und mehr in aus Verzweiflung gespeiste, blanke Wut.
“Wünschen ändert an der Realität nichts” antwortet Neb nüchtern.
“Es ist was es ist und wir machen das beste daraus. Wie immer. Abgesehen davon haben wir eh keine Alternative. Denn weiterzumachen ist unsere einzige Möglichkeit hier raus zu kommen.” deutet Neb das Kinn Richtung Eingang auf der Spitze des kleinen Berges vor den Toren der Geisterstadt.
“Das Portal ist verschwunden. Kein Signal ist auch nur detektierbar, geschweige denn nutzbar. Habe ich alles schon geprüft.” schließt Neb seine Zusammenfassung.
“Entweder wir machen weiter oder wir haben hier eine sehr lange, sehr eintönige Zeit vor uns.” schaut Neb Eliyha und Njörðs mit klarem und entschlossenem Blick an.
“Vergiftete Geister.” bricht Njörðs sein Schweigen und die ungläubige Ruhe nach Nebs Aussage.
Er fasst im Gleichschritt Mut und Energie und blickt Neb bohrend direkt in die Augen.
“Die Viridis. Die du vielleicht als “Virids” aus alten Gruselgeschichten aus deiner Kindheit kennst.” löst er sich aus Eliyhas Armen und spricht mit wieder fester werdender Stimme.
Neb blickt ihn mit Unverständnis und einer leicht angstgefüllten Vorahnung an.
“Viridis sind eine unheilige Mischung aus seelenloser Energie und Metall. Und buchstäblich unvernichtbar. Selbst wenn man jedes Atom ihrer Körper spaltet und sie vollständig ionisiert, "tunnelt" ihre Energie zurück zu ihren Nexus und diese verwandeln mittels Energie die umgebende Materie wieder in sie um.
Der Legende nach haben sie sämtliche Völker und Zivilisationen sämtlicher Universen in Sternenclustern vor etlichen Generationen unterworfen und waren buchstäblich - für unser begrenztes Verständnis - unendlich mächtig.
Es heißt, sie haben sich genau deshalb zur Ruhe gelegt.
So lange, bis sie eine Macht spüren, welche ihnen ebenbürtig ist.” redet sich Njörðs in schnell erschöpfende Rage. Bis ihn nach diesem Ausbruch schlagartig die Energie verlässt.
Stille nimmt den Platz der Worte ein.
Neb atmet kurz durch und ruft den Eintrag zu “Viridis” in seinem Index auf.
To be continued.