Die Aussicht verschlägt einem den Atem.
Die Aussicht und der eisige Wind, der durch die sachte rosa seidig schimmernden Wolken zieht, wie von einem Blasebalg voll eisiger Klingen getrieben.
Sie stehen nur etwa zwei Mannhöhen unterhalb des Gipfels, zu ihren Füßen schlammbraune, helle Erde. Vor Ihnen das Dach dieser Welt.
Die drei Erkunder haben die Wolkendecke durchdrungen und sind nun wie durch eine Wand aus Watte vom Rest dieses Planeten getrennt.
Nach einer kurzen Pause, in welcher sie die Intensität dieses Moments einatmen, fragt Eliyha in die Runde: "Und, wollen wir hinauf?"
Njörðs und Neb nicken instinktiv, lächeln ihr zu, drehen sich von der surreal schönen Aussicht weg und beginnen den finalen Aufstieg zum Gipfel.
"Wenn das mal keine gute Idee war", sagt Neb zufrieden lächelnd.
"Kann man wohl sagen", stimmt Njörðs ein.
"Vor allem, weil man dich momentan sonst kaum aus deinem Labor herausbekommt", ergänzt Eliyha mit einem schelmischen Grinsen.
"Was soll ich sagen, vierdimensionale Metamaterialien dieser Güte entwickeln sich nunmal nicht von selbst" spielt Neb den Ball gekonnt zurück.
"Ich bin einfach froh, dass wir endlich mal wieder zusammen sind!" beendet Njörðs die sich anbahnende Diskussion mit einer Umarmung von beiden.
"Ich auch, danke für die Überraschung! Dieser kleine Edelstein am Rande von Laniakea steht schon lang auf meiner tertiären Interessensliste!"
"Und genau deshalb sind wir hier! Auch wenn es noch immer nicht ganz einfach ist, tatsächlich bis hier raus zu kommen. Massenteleportation hin oder her. Die Leute glauben noch immer sehr intensiv an die alten Geschichten." sagst Njörðs mit gerunzelter Stirn und Sorgen, die kurz über sein Gesicht huschen.
"Ach, den meisten Menschen unterhalb von T2, und selbst vielen von diesen kannst du bei so emotionalen Themen kaum ein Wort glauben. Da sind fast immer ungenaue Überlieferungen, künstlich aufgeblähte Gutenachtgeschichten, hoffnungsverzweifelte Wünsche, unreflektierte Träume und allerlei wirre Halbwahrheiten in einem großen Topf zusammengeschmolzen. Die meisten T0er und T1er machen das seit Jahrtausenden so. Genau wegen solchen Situationen freue ich mich auf die Singularität!" erwiedert Neb mit einer Mischung aus aufkeimender Wut und trockener Verzweiflung in seiner Stimme.
"Ohne Fiona hörst du uns sowieso nicht zu, egal was wir dazu sagen" wirft Eliyha vorwurfsvoll ein.
Neb ist gerade dabei, ob dieser seit seiner Kindheit mit den beiden laufenden Debatte eine energiegeladene Antwort zu erwidern, als ihm ein fast schon stechender Lichtstrahl in die Augen fährt.
"Habt ihr das auch gerade gesehen?", fragt Neb nachdem er sich instinktiv zur Seite geduckt hat.
"Ach, sag bloß, jetzt glaubst du doch an die alten Schauergeschichten der Märchenomas der vorletzten Jahrtausende", sagt Njörðs schnippisch.
"Die Koordinaten jedenfalls passen", wirft Eliyha ein.
Doch Neb hört den beiden kaum zu, schenkt der Umgebung keine Beachtung mehr. Er ist absolut fokussiert. Fionas eindrückliche Worte liegen wie ein stählerner Sarg über seinen spottenden Gedanken.
Der Flammenkaneol. Die Prophezeiung. Die Viridis. Sollte all das am Ende doch wahr sein?
Unmöglich. Er macht lediglich seinen Job und führt alle Teile der Menschheit am Ende von diesem in eine oder mehrere Singularitäten. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Grund irgendwelche hypothetischen Hirngespinste, Gottheitswünsche oder sonstigen Gibberisch hinzuzuziehen. Aber er hat das grellorangene Aufblitzen gesehen. Sie sind exakt eine Flammenschneise unterhalb der Bergkrone. Die Tageszeit stimmt. Einfach alles stimmt. Jeder Parameter ist genau wie in dieser absurd lächerlichen Warnung. Mehr oder minder zum Spaß hat er seine Eltern ja auch genau aus diesem Grund überzeugt, genau die erklommene Route in genau diesem Zeitintervall zu nehmen. Um mal wieder einen Punkt für Wissenschaft und Technologie zu machen. Verdammte Kindheitsdiskussionen.
Während die Gedanken durch seinen Schädel rasen, sprintet Neb immer schneller auf die Quelle des mysteriösen Glitzers zu. Halb hypnotisiert, halb von der ihm typischen unbändigen Neugier getrieben rennt er die wenigen Meter zum Fuße des etwa turmbreiten Gipfels.
Als es erneut geschieht.
Was in der einen Sekunde ein nichtssagender Stein war, wurde in der nächsten zu einem halbtransparenten, hell glänzenden Kristall. Der Flammenkarneol. Noch gleißender als ihn Fiona beschrieben hat.
Neb nimmt die letzten Schritte zum Stein in einem kurzen Sprung und kniet sich vor ihn. Er sieht aus als würde eine kontinentumspannende Feuersbrunst in ihm wüten. Gebündelt auf weniger als einer Faustgröße. Noch immer weht der klirrend kalte Wind um den Berggipfel und keinerlei Hitze geht von dem Kristall aus. Und doch hält Neb den Atem an, als er eine Armlänge von ihm entfernt ist. Seine Aura ist wie ein dichter, rotgelb scheinender Nebel.
"Alles ok?", fragt Eliyha besorgt kurz bevor Njörðs und sie zu Neb aufschließen.
"Ja... Ja. Seht ihr das auch?" fragt Neb.
"Hm." atmet Njörðs trotzig aus. "Was sagt man dazu?"
Fiona sieht ihn mit einem leisen Anflug von Angst in die Augen. "Was tun wir jetzt?"
Neb streckt die Hand aus, um den Flammenkarneol zu greifen.
"Ich schätze wir prüfen wie viel Wahrheit in einer Jahrtausendealten Prophezeihung steckt." Sagt Njörðs.
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